Der Kohlenbauer von Heretsried - eine Weihnachtsgeschichte frei erzählt nach einer wahren Begebenheit

von Sieglinde Filchner – Augsburg
Veröffentlicht in den Heimatnachrichten, 24.12.1980

Fünf Wegstunden nordwestlich von Augsburg liegt in einem Talkessel verborgen das kleine Dörfchen Heretsried. Seine Bewohner sind einfache Bauersleute. Keine Eisenbahn stört den Frieden der weiten, das Dorf umgebenden Wälder, nur ein Auto huscht alle Tage zweimal durch die Gegend. Vor vierzig Jahren, wo die Eisenbahn noch ein rares Verkehrszeug war und man vom Auto noch nichts wusste, auch das Fahrrad als etwas ganz Außerordentliches galt, da gehörte eine Fahrt mit Ross und Wagen zur Stadt zu den besonderen Ereignissen. Wenn es noch dunkel war, musste man schon einspannen, um am Vormittag noch die Stadt zu erreichen und bis alle Geschäfte erledigt waren, wurde es meist später Nachmittag. So kam es, dass man auch wieder in der Dunkelheit den Rückzug machen musste. Die Daheimgebliebenen verbrachten den Tag meist in einiger Sorge und Unruhe, weil der Weg durch den Wald nicht ganz ungefährlich war. Von einer solchen außergewöhnlichen Fahrt sei hier erzählt.

In der Gaststube eines Wirtshauses an der Wertachbrücke bietet sich jedoch das alltägliche Bild. Um den Tisch, der dem Ofen zunächst ist, sitzt eine Gesellschaft, der es der Heilige Abend bis jetzt noch gar nicht hat antun können. Es sind Stammgäste. Neben dem Ofen sitzt der Mahler von der „Äußeren Mühle“, er stürzt eine Halbe nach der anderen hinunter und führt nebenbei mit seinem Nachbarn, dem Bleicher, laute Reden über die miserablen Zeiten und dass es so nimmer fortgehen könne. Diese Reden stören die nebenan sitzenden Tarocker nicht im geringsten, sie haben die Welt um sich her vergessen und schlagen kraftvoll Trumpf um Trumpf auf die Tischplatte. Der Lumpensammler Glaser, ein alter Schnapsbruder, hält in der Ecke schnarchend seinen wohlverdienten Schlummer, indes der Gärtner Kräutel einen fremden Schäfer zechfrei hält, damit ihm dieser, der doch weit herumkommt im Land, verrate, wo ein vorteilhaftes Handelsgeschäft zu machen wäre. Der Gärtner verdient sich nämlich seinen Unterhalt lieber mit Handeln als mit Graben und Pflanzen.

In dieser späten Nachmittagsstunden geht die Türe auf und das Lokal betritt ein Mann mit schwerem Schritt, lässt sich mit linkischem Gruß am Tisch der Kartenspieler nieder, ohne zu fragen, ob noch ein Platz frei sei. Niemand kennt ihn, nur soviel merken sie seinem Benehmen an, dass der „von dussa“ (= von draußen, vom Lande) einer ist. „ A Maß und was z’essa!“ herrscht er die Kellnerin an. Die fragt, was er wolle. Frischgemachte Geschwollene seien da, auch feine Bratwürste ... Er lässt sie nicht weit kommen und verlangt kurz: „A Trumm ordentlichen Kas und a Brot?“ Da zwinkert der Schäfer dem Gärtner zu und weil der ihn versteht, sagt er laut: „No, Schäfer, ka’ ma d’ Würst heut doch essa?“ „Dös will i moina! Mir is koi gotziges Bröckle im Kraga stecka blieba!“ Der Baur merkt nichts oder will nichts merken von der städtischen Bosheit.

Inzwischen ist der Wirt eingetreten; der setzt sich zum neuen Gast: „Hab’ die Ehr! Seid’s gewiß von weiter her?“ fragt er. Der Bauer erzählt, dass er Holzkohlen in die Stadt gefahren und nun höchste Zeit habe, zur Mitternachtsmesse rechtzeitig heimzukommen. „Geht’s Steppach zu?“ mischt sich der Schäfer neugierig ins Gespräch. „ Ja, wenn’s nöt weiter wär’!“ meint der Gefragte, das klingt so, als liege ihm der Heimweg heute schwer auf der Seele.  „ In Heretsried bin ich daheim!“ – Da sind alle einen Augenblick still, als besännen sie sich, wo der Ort liegt. „Wo is’ denn dös?“ tut der Schäfer unkundig. Der Bauer erzählt nun, wie er jedes Jahr zwei-, dreimal Kohlen zum Schmied in die Stadt bringe und wie ihm der Weg über den Peterhof, Holzhausen und Batzenhofen oft so weit vorkomme. Wenn einmal der Perlachturm  und der Ulrichsturm sichtbar werden, dann sei es gleich kurzweiliger, obwohl sich der Weg über Hirblingen und den Bärenkeller noch recht in die Länge ziehe. Aber man braucht Geld zum Steuerzahlen und die neumodischen Versicherungen kosten auch ein Heidenvermögen, da müsse es halt sein, dass man bald mit Kohlen, bald mit Getreide zur Stadt fahre. Während des Erzählens hat sich einmal die Tür wie von selbst geöffnet und ein schwarzer Spitz springt wie toll an dem Bauern hinauf und liebkost ihn. „Ist das Euer Hund?“ fragt ihn der Gärtner. Der Bauer bejaht dies stolz und befriedigt mit Käse und Brot den Hunger seines Spitz. Mit einem Male steht der Hund im Mittelpunkt des Gespräches. Dass er alle Türen öffnen, dass er apportieren könne, erzählt der Bauer. Der Gärtner will ihn kaufen. Er brauche einen guten Hund für seinen großen Garten, ein solcher Spitz täte ihm gerade passen. Der Bauer hat nicht Lust, den Hund herzulassen, erhat zwar zu Hause noch eine große Dogge, aber gerade der gescheite, lustige Spitz sei von jeher sein Liebling gewesen. Doch der Gärtner lässt nicht nach mit Fragen, was er koste, und der Schäfer erzählt von einem der sich auch von seinem Hund nicht habe trennen können, obwohl man ihm ein aufwändiges Angebot gemacht habe, und dann seien kaum vierzehn Tage verstrichen gewesen, als der Hund eines Morgens tot vor der Haustüre gefunden worden sei. Schließlich lockt den Bauern das Geld, es fällt ihm ein, dass er im Nachbarort wieder einen solchen Spitz bekommen kann, und so sagt er dem Gärtner den Hund zu.

Während dieser Verhandlungen ist der Spitz nicht von seines Herrn Seite gewichen, als ahne er, worum es geht. Er schleckt des Bauern Hand, wie der ihm noch einmal durchs schöne, glänzende Fell streicht. Seine Augen ruhen fragend auf dem Bauern, da dieser ihm durchs Halsband einen Strick zieht und dann am Tischbein befestigt, damit er ihm nicht folgen können, wenn er das Haus verlässt.

Der Bauer kann das Tier nimmer ansehen, ohne traurig zu werden. Er zahlt und will nun unvermerkt die Stube verlassen. Aber der Spitz hat ihn nimmer aus den Augen gelassen. Er zerrt am Strick und bellt und heult jämmerlich. Eine kurze Weile vorher ist auch der Schäfer aufgebrochen, er will angeblich heute noch nach Stadtbergen marschieren. Fünf Uhr schlägt es von der Oberhauser Kirche, als der Kohlenbauer die Stadt verlässt. Es ist inzwischen dunkel geworden. Eine leicht Schneedecke bedeckt die weithin sich eben erstreckenden Wiesen und Äcker zu beiden Seiten des Weges. Weiß verschneit liegt in der Ferne der Wald und davor flimmern einzelne Lichter aus zerstreut liegenden Höfen. Am dunklen Himmel zeigen sich die lichten Sternlein und zaubern Weihnachtsstimmung in die einsame Gegend.

Noch nie hat den Bauern so verlangt, zu Hause zu sein, wie heute. Er treibt die Pferde an und nun geht’s munter vorwärts. Auf einmal aber ist es ihm, als wandle in einiger Entfernung vor ihm ein dunkler Schatten. Von Zeit zu Zeit sieht er ihn nicht mehr. Vielleicht täuscht er sich. Und was ist schließlich Verwunderliches dabei, wenn ein einsamer Wanderer des Weges zieht. Aber trotz dieser Erwägungen fühlt der Bauer eine innere Unruhe. Er muss jetzt an seinen Hund denken, und ist es ihm, als habe er nicht recht getan, den Spitz zu verkaufen. Wenn jetzt sein Spitz da wäre, da wäre ihm gleich, wer vor ihm geht. Unterhaltlicher wäre es auch, mit dem Spitz hat er alles besprechen können, der war stets ein williger Zuhörer.

Inzwischen hat er den beunruhigenden Schatten aus den Augen verloren. Es werden die ersten Häuser von Hirblingen sichtbar, vielleicht ist der späte Wandersmann hier zu Hause. Das gibt dem Bauern einige Beruhigung. Er muss hier bei Verwandten ein Päckchen abgeben. Es werden ihm hier allerlei Dorfneuheiten erzählt und diese beschäftigen ihn, dass er fast bis Batzenhofen kommt, ohne an den Schatten zu denken. Ganz so sorglos wie sonst durch den Wald zu fahren, das gelingt ihm heute aber nicht. Jedes Knacken der Äste, jedes Herabfallen des Schnees von den Bäumen, jedes Krachen des Eises bereitet ihm stille Qual, unzählige Male bereut er den Verkauf des braven Spitz. Ein wahres Dankgefühl quillt in ihm auf, als er nach einstündiger Fahrt durch den Wald zwischen die Bäume hindurch die weiße Schneefläche sichtbar wird, die ihn noch von seinem Heimatdorf trennt. Noch eine halbe Stunde, dann ist’s gewonnen, dann ist er bei den Seinen. Sein Weib wird schon längst in Unruhe um ihn sein und die Kinder werden auch auf den Vater warten und neugierig sein, was er ihnen mitbringe.

Er komme mit dem Gedanken nicht zu Ende, da sieht er am Waldrand wieder den Schatten auftauchen – kaltes Entsetzen überläuft ihn, als ein dumpfes „Halt“ an sein Ohr dringt. Soll er auf den Ruf nicht gehen und weiterfahren, als ginge er ihn nichts an? Das würde ihm wenig nützen – vielleicht will einer nur aufsitzen und mit ins Dorf fahren – er hält an und fragt: „Was los?“ Der Gefragt schwingt sich ohne Antwort zu geben, hinten auf den Wagen und versetzt dem Ahnungslosen auf den Kopf einen heftigen Schlag, dass er taumelnd vom Wagen sinkt. Wie tot liegt er am Wege. Der Mörder springt vom Wagen, nähert sich dem Totgeglaubten und will ihm die Taschen aussuchen. Unterdessen erlangt der Bauer das Bewusstsein wieder. Der andere merkt es, zieht das Messer und sticht wie toll auf den Hilflosen ein, der kraftlos zusammenbricht. Er muss es zulassen, dass ihn der Wüstling seiner ganzen Barschaft beraubt – dann vergeht ihm Hören und Sehen ......

Wie lange er so dagelegen hat, weiß er nicht, als er erwacht, ist ihm, als sei sein Spitz neben ihm – ermeint zu träumen und streckt die Hand aus, nach dem Tier zu greifen – das leckt ihm dankbar die Hand, winselt und heult. Währenddessen ist es den Pferden zu lang geworden, sie sind allein dem Dorfe zugefahren. Eben wollen einige Heretsrieder in die Mette gehen .... da sehen sie das herrenlose Fuhrwerk daherkommen. Es schwant ihnen nichts Gutes. Sie setzen sich auf das Fuhrwerk und fahren dem Walde zu. „Heute muss der Pfarrer allein vigilen!“ rufen sie den entsetzten Frauen zu, die nun auch, anstatt in die Kirche zu gehen, den Weg zu der Kohlenbäuerin einschlagen .....

Längst haben die Glocken zusammengeläutet, in der Kirche aber sind nur einige alte Frauen und die Kinder, alle anderen Dörfler stehen vor dem ersten Hause des Dorfes, wo sie den Sterbenden eiligst hineinbringen, dass er sich nicht ganz verblute. Ein Notverband wird angelegt, man spannt ein neues Fuhrwerk ein und jagt zu nächsten Arzt.

Der Bauer kenn zwar noch sein Weib, aber reden kann er nimmer. Zwischenhinein streichelt er seinen Spitz, der nicht vom Lager des Herrn weicht. Dann beginnt der Bauer zu fiebern. Nein – solch eine schreckliche heilige Nacht hat man in Heretsried noch nie erlebt! Was mag nur dem Kohlenbauer zugestoßen sein? Man wunder sich, dass der Hund nicht verwundet ist.

Noch in derselben Nacht kommt die Polizei. Der Hund wird mitgenommen an den Tatort – man verfolgt eine Fährte, die führt tief in den Wald. Vor einer Jagdhütte hält der Spitz und bellt, was er kann. Sie wird geöffnet. Da steht eine Männergestalt, auf die der Spitz wie wütend losfährt. Die Untersuchung ergibt, dass es der Schäfer ist, der im Gasthaus in Augsburg mit dem Bauern am selben Tisch gesessen ist. Wie er gehört hat, dass der Bauer soviel Geld eingenommen hat und am Abend allein heimfährt, da ist ihm ein verwerflicher Gedanke aufgestiegen. Besonders, wie noch der Hundsverkauf dazwischen kam. Alle horchen auf und fragen, was er damit meine. So enthüllt sich auch das Schicksal des treuen Spitz, der seinen neuen Herrn verlassen hat und rastlos gelaufen ist, bis er seinen Herrn in dem schrecklichen Zustand getroffen hat.

In steter Erinnerung bleibt den Bewohnern von Heretsried jenes traurige Weihnachten. Den Wanderer aber mahnt ein Kreuz am Weg, im Gebete des armen Kohlenbauern zu gedenken, der hier so schrecklich ermordet wurde – vielleicht auch des Schäfers, den die irdene Gerechtigkeit so schnell ereilte.